10. GWB-Novelle: Weitergehende Ermittlungsbefugnisse für die Kartellbehörden im Bußgeldverfahren

Der Gesetzgeber der 10. GWB-Novelle hat in Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie (EU) 2019/1 (ECN+-Richtlinie) die Regelungen zum Kartellbußgeldverfahren in §§ 82 ff. GWB grundlegend überarbeitet. Hierbei hat er insbesondere die Ermittlungsbefugnisse der Kartellbehörden durch erweiterte Auskunfts- und Fragerechte zum Zweck der Sachverhaltsermittlung und damit korrespondierend die Mitwirkungspflichten der Unternehmen und ihrer Vertreter und Mitarbeiter ausgeweitet.

Auskunftsverlangen

Neu ist, dass Kartellbehörden gem. § 82b Abs. 1 GWB i.V.m. § 59 Abs. 1 GWB nunmehr – ähnlich wie im Verwaltungsverfahren – auch in Bußgeldverfahren das Recht haben, von Unternehmen innerhalb angemessener Frist die Erteilung von Auskünften sowie die Herausgabe aller dem Unternehmen zugänglichen Unterlagen zu verlangen. Als zugänglich gelten insofern auch solche Informationen, auf die eine Mutter-, Schwester- oder Tochtergesellschaft der Adressatin des Auskunftsverlangens Zugriff hat, sofern diese eine wirtschaftliche Einheit mit ihr bildet, also unter einheitlicher Leitung mit ihr steht.

Die Inhaber und Vertreter von Unternehmen sind dazu verpflichtet, diesem Verlangen nachzukommen. Kartellbehörden können nach § 59 Abs. 1 Satz 6 GWB Vertreter des Unternehmens in diesem Rahmen auch zur Befragung einbestellen. Unternehmen sind nach § 82b Abs. 1 i.V.m. § 59 Abs. 3 Satz 2 GWB nur insoweit geschützt, als dass sie nicht zum Geständnis einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit oder einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 und 102 AEUV gezwungen werden dürfen.

Ein entsprechendes Auskunftsverlangen können die Kartellbehörden nach § 82b Abs. 1 GWB i.V.m. § 59 Abs. 4 Satz 1 GWB auch unmittelbar an natürliche Personen richten.

Auskunftspflichtigen natürlichen Personen sowie Inhabern und Vertretern von Unternehmen steht nach § 82b Abs. 1 i.V.m. GWB § 59 Abs. 4 Satz 2 GWB ein Auskunftsverweigerungsrecht entsprechend § 55 StPO zu, soweit die Beantwortung der Fragen die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit für sie selbst oder einen nahen Angehörigen begründen würde. Dies gilt nicht, wenn lediglich die Gefahr der Verfolgung im kartellbehördlichen Bußgeldverfahren begründet würde und die Kartellbehörde der Auskunftsperson im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens eine Nichtverfolgungszusage erteilt hat.

Der Schutz durch diese Voraussetzungen ist zweifelhaft. Zum einen ist nicht immer absehbar, ob nicht tatsächlich doch die Verfolgung wegen einer anderen Ordnungswidrigkeit oder wegen einer Straftat in Betracht kommt. Zum anderen bietet die Nichtverfolgungszusage keinen Schutz, wenn sie ermessensfehlerhaft ergangen ist. Die Selbstbelastungsfreiheit (nemo-tenetur-Grundsatz) wird somit nur unter Voraussetzungen geschützt, die zum Zeitpunkt des Auskunftsverlangens nicht abschließend zu überblicken sind.

Für Auskunftspersonen ergibt sich aus den neuen Ermittlungsbefugnissen der Kartellbehörden eine delikate Situation: Sie können die Aussage bei eigenen Zweifeln an den Voraussetzungen der Nichtverfolgungszusage kaum verweigern, weil Verstöße gegen die Auskunftspflicht bußgeldbewehrt sind. Irrt sich die Kartellbehörde oder überschreiten Ermittlungsbeamte im Einzelfall sogar bewusst das ihnen zustehende Ermessen, können die Auskunftspersonen, die sich wegen der Nichtverfolgungszusage selbst belastet haben, hingegen nur noch auf den fair trial-Grundsatz pochen und auf eine Bußgeldminderung hoffen. Man darf gespannt sein, ob das Bundesverfassungsgericht die sich aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ergebende Selbstbelastungsfreiheit noch ausreichend gewahrt sieht.

Durchsuchungen

Ferner wurden die Ermittlungsbefugnisse der Kartellbehörden sowie die Mitwirkungspflicht der Unternehmen im Rahmen von Durchsuchungen ausgeweitet gem. § 82b Abs. 1 Satz 1 GWB i.V.m. § 59b Abs. 3 Satz 1 GWB. Grundsätzlich hat die Kartellbehörde im Rahmen des kartellbehördlichen Bußgeldverfahrens zwar gem. § 82b Abs. 1 Satz 1 GWB i.V.m. § 46 Abs. 2 OWiG weiterhin dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten, sodass die die Durchsuchungen und Beschlagnahmehandlungen betreffenden Regelungen der Strafprozessordnung grundsätzlich weiterhin gelten. Allerdings werden die Befugnisse der Kartellbehörde während der Durchsuchung entsprechend den Vorgaben der ECN+-Richtlinie ausgeweitet.

Zunächst haben die Bediensteten der Kartellbehörde nach § 59b Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB das Recht, sämtliche Bücher und Geschäftsunterlagen zu prüfen und Zugang zu allen Informationen zu erlangen, die für die von der Durchsuchung Betroffenen zugänglich sind. Wiederum gelten alle Informationen als zugänglich, auf die eine Mutter-, Schwester- oder Tochtergesellschaft zugreifen kann, die mit der Adressatin des Durchsuchungsbeschlusses eine wirtschaftliche Einheit bilden.

Der Wortlaut und der Sinn und Zweck des gegenüber den Regelungen der StPO spezielleren § 59b Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB weisen darauf hin, dass der im Durchsuchungsbeschluss festgelegte Zweck der Durchsuchung deren Umfang nicht begrenzt. Anders als die Verpflichtung zur Erläuterung von Fakten und Unterlagen nach § 59b Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB enthält § 59b Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB keine Bezugnahme auf den Zweck der Durchsuchung. Auch Art. 6 Abs. 3 und Erwägungsgrund 31 ECN+-Richtlinie sehen jeweils nur eine Genehmigung für die Nachprüfung als solche – nicht aber deren Vollzug – durch ein Justizorgan vor. Die Gefahr von Zufallsfunden durch neugierige Ermittlungsbeamte steigt somit.

Problematisch ist zudem, dass die Ermittlungsbefugnisse der Kartellbehörden im Bereich des § 59b Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB weiterhin nicht durch ein sog. legal privilege beschränkt sind. Der Gesetzgeber hat es unterlassen, den Schutz von Anwaltskorrespondenz, die zwar im Zusammenhang mit einem späteren Bußgeldverfahren steht, aber bereits vor Verfahrenseröffnung durch die Kartellbehörde erstellt worden ist, in das Gesetz aufzunehmen. Im Lichte des Art. 3 Abs. 1 und Abs. 2 ECN+-Richtlinie hätte ausreichend Raum für eine gesetzliche Normierung des legal privilege bestanden. Auch insofern besteht weiterhin nur ein gewisser Schutz im Rahmen der Ermessensausübung durch die Kartellbehörden.

Ferner müssen Vertreter und Mitarbeiter von Unternehmen der Kartellbehörde nach § 59b Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB auf ihr Verlangen insbesondere Informationen offenbaren, die den Zugang zu Beweismitteln ermöglichen könnten, sowie Fakten oder Unterlagen erläutern, die mit dem Gegenstand und dem Zweck der Durchsuchung in Verbindung stehen könnten. Derartige Auskünfte können nach § 82b Abs. 1 Satz 2 GWB i.V.m. § 59 Abs. 4 Satz 2 GWB unter denselben oben dargestellten Voraussetzungen verweigert werden, wie die Antworten auf Auskunftsverlangen nach § 59 Abs. 4 GWB.

Die Betroffenen können die Art und Weise der Durchführung der Durchsuchung – insbesondere den Umfang der Prüfung von Unterlagen und den Umfang des Informationsverlangens – sowie der Beschlagnahmung nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO analog gerichtlich überprüfen lassen. In diesem Rahmen kann auch die Unverhältnismäßigkeit der jeweiligen Einzelmaßnahme im Rahmen der Durchsuchung geltend gemacht werden.

Was bedeutet das für Unternehmen und ihre Mitarbeiter?

Auskunftspersonen sollten Auskunfts- und Informationsverlangen der Kartellbehörden zwar Folge leisten. Etwaigen Nichtverfolgungszusagen der Kartellbehörden gegenüber natürlichen Personen oder einer Versicherung durch Ermittlungsbeamte, dass lediglich eine Verfolgung wegen eines Kartellverstoßes in Frage kommt, sollte aber nicht blindlings vertraut werden.

In der Durchführung der Durchsuchung verfügen Kartellbehörden über erweiterte Befugnisse, deren verhältnismäßige Wahrnehmung weiterhin erst nachträglich gerichtlich überprüfbar ist. Sie dürfen grundsätzlich alle Unterlagen einsehen und (fast) alles fragen.