Änderungen im Vertriebskartellrecht: Kommission veröffentlicht Verordnungsentwurf

Worum geht es?

Die zentralen kartellrechtlichen Bestimmungen (Art. 101, 102 AEUV, §§ 1, 2 GWB) sind bekanntlich nicht immer leicht anzuwenden und die sie konkretisierenden Verordnungen adressieren die aktuellen wirt­schaftlichen Rah­menbedingungen und Rechtsfragen häufig nur unzureichend. Dies trifft auch und gerade auf die einschlägigen kartellrechtlichen Vorgaben in oftmals komplexen Vertriebs­be­zieh­ungen zu. Hier gilt bekanntlich die sog. Vertikal-Gruppen­frei­stellungs­verordnung (Vertikal-GVO), die zuletzt im Jahr 2010 geändert worden ist. Sie regelt, welche Wettbewerbs­beschränkungen zwischen Anbietern und Abnehmern (Händlern) von Waren oder Dienstleistungen grundsätzlich gerechtfertigt und damit zulässig sind, wenn die Marktan­teile der Beteiligten eine Schwelle von 30 % nicht (wesentlich) überschreiten. Sie ist damit DAS zentrale kartellrechtliche Regelwerk für den Vertrieb.

Die aktuelle Vertikal-GVO (hier) und die dazugehörigen Leitlinien für vertikale Beschränkungen (hier) laufen am 31. Mai 2022 aus. Die Kommission hat daher kürzlich einen Neuentwurf sowohl der Vertikal-GVO (hier) als auch der Vertikal-LL (hier) veröffentlicht und zur öffentlichen Stellungnahme aufgefordert.

Das Wichtigste in Kürze

Was bislang in Vertriebsbeziehungen verboten war, bleibt im Grundsatz verboten.

  • Lieferanten dürfen ihren Abnehmern (selbstverständlich) auch künftig nicht vorgeben, zu welchen Preisen diese ihre Produkte weiterkaufen (Verbot der Preisbindung der zweiten Hand), Art. 4 lit. a) Vertikal-GVO-E. Die Kommission konkretisiert in dem Vertikal-LL-E allerdings deutlich detailreicher als früher welche Verhaltensweisen konkret erlaubt sind und welche nicht.
  • Ferner dürfen Lieferanten ihren Händlern – unabhängig von dem gewählten Vertriebssystem – nicht verbieten, auf unaufgeforderte Kundenanfragen einzugehen oder das Internet als Vertriebskanal zu nutzen (sog. „passiver Vertrieb“), Art. 4 lit. b) Vertikal-GVO-E. Auch insoweit bietet der Leitlinienentwurf aber zahlreiche Klarstellungen.
  • Schließlich dürfen Wettbewerbsverbote auch weiterhin höchstens für die Dauer von fünf Jahren fest vereinbart werden, Art. 5 Abs. 1 lit. a) Vertikal-GVO-E.

An einigen Stellen möchte die Kommission jedoch nachjustieren. Das betrifft vor allem Beschränkungen im Bereich des Online- und Plattformvertriebs. Aber auch bei den Themen Dualvertrieb, Alleinvertrieb und selektiver Vertrieb werden Änderungen angestrebt. Weitere Anpassungen und Klarstellungen beziehen sich auf die Reichweite des Handelsvertreterprivilegs sowie auf die Anwendung der Marktanteilsschwelle (Art. 7 Vertikal-GVO-E), wobei 30% Marktanteil auf den einschlägigen Absatz- und Beschaffungsmärkten weiterhin als entscheidende Grenze in Kraft bleiben sollen.

Was könnte sich konkret ändern?

Wir werden uns mit den Änderungsvorschlägen noch vertiefend beschäftigen und darüber berichten. Initial sind jedenfalls die folgenden Punkte hervorzuheben:

Der Text der Vertikal-GVO geht bislang nicht auf den Online­handel, die Tätigkeit von Vermittlungsplattformen oder damit verbundene Vertriebspraktiken ein. Der Vertikal-GVO-Entwurf behandelt das Thema dagegen erstmalig ausführlich(er):

  • Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten werden ausdrücklich in den An­wendungsbereich aufge­nommen. Als solche definiert der Vertikal-GVO-E vereinfachend „Dienste, die es Unternehmen ermöglichen, anderen Unternehmen oder Endverbrauchern Waren oder Dienstleistungen anzubieten, indem sie die Einleitung direkter Transaktionen zwischen solchen Unternehmen oder zwischen solchen Unternehmen und Endverbrauchern vermitteln“ (Art. 1 Abs. 1 lit. d) Vertikal-GVO-E). Mit anderen Worten: Auch reine Vermittlungsplattformen können im Grundsatz von der Freistellungswirkung des Vertikal-GVO-E profitieren.
  • Sind Vermittlungsplattformen dagegen parallel auch selbst im Vertrieb tätig (sog. „Hybridplattformen“) gilt die Freistellungswirkung für sie nicht, Art. 2 Abs. 7 Vertikal-GVO-E. Was diese sehr restriktive Aussage für die Vielzahl – auch kleinerer – Plattformen bedeutet, die solche parallelen Geschäftsmodelle fahren, wird weiter zu untersuchen sein.
  • Das Thema der sog. Bestpreisklauseln oder umfassender der sog. Paritätsklauseln beschäftigt die Rechtsprechung in Deutschland und Europa schon seit mehreren Jahren (Stichworte: Verfahren gegen HRS, Booking und Expedia). Es geht vereinfachend um die Frage, ob eine Vermittlungsplattform, von einem Anbieter verlangen darf, dass dieser die betreffende Ware oder Dienstleistung auf anderen Vermittlungsplattformen (weite Bestpreisklauseln) oder wenigstens auf der eigenen Webseite (enge Bestpreisklausel) nicht günstiger anbietet als auf der Plattform. Weite Paritätsklauseln werden nach dem Entwurf ausdrücklich als Wettbewerbs­beschränkungen qualifiziert, die nicht freistellungsfähig sind, Art. 5 Abs. 1 lit. d) Vertikal-GVO-E. Zu engen Bestpreisklauseln äußert sich der Entwurf dagegen nicht. Nach der Systematik der Vertikal-GVO dürften sie damit zulässig sein.

Auch hinsichtlich des Dualvertriebs soll es Anpassungen geben. Darunter fallen bekanntlich Situationen, in denen ein Lieferant zugleich selbst im Direktvertrieb der Vertragswaren tätig ist und daher zum (potentiellen) Wettbewerber seiner eigenen Händler wird. Dualvertrieb hat in letzter Zeit vor allem deshalb an Bedeutung gewonnen, weil Lieferanten zunehmend auch eigene Webshops betreiben.

  • Der Dualvertrieb soll wie auch bisher von der Freistellungswirkung der Vertikal-GVO profitieren. Dies gilt nach einer neuen Klarstellung auch für Informationsaustäusche zwischen den betreffenden Unternehmen – jedenfalls dann, wenn der gemeinsame Marktanteil der Beteiligten 10% nicht übersteigt.
  • Weiterhin wird klargestellt, dass in diesen Konstellationen bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen (selbstverständlich) nicht von der Freistellungswirkung der Vertikal-GVO profitieren.

Weitere Änderungen bzw. Klarstellungen beziehen sich etwa auf den Alleinvertrieb und den selektiven Vertrieb:

  • Offenbar soll es erstmalig zulässig sein, ein bestimmtes Gebiet oder eine bestimme Kundengruppe gleichzeitig mehreren Abnehmern exklusiv zuzuweisen. Bislang erlaubte der Wortlaut der Vertikal-GVO nur die Zuweisung an einen einzelnen Vertriebspartner.
  • Auch das Nebeneinander von Alleinvertrieb und selektivem Vertrieb wird behandelt. Der Entwurf legt fest, dass auch Mitglieder selektiver Vertriebssysteme verpflichtet werden dürfen, exklusiv vergebene Vertriebsgebiete oder Kunden zu respektieren. Ihnen darf der aktive Vertrieb in solche Exklusivgebiete oder -kunden untersagt werden. Umgekehrt dürfen auch Mitglieder exklusiver Vertriebssysteme verpflichtet werden, selektive Vertriebsgebiete zu respektieren. Ihnen darf insoweit sogar der aktive und passive Vertrieb an nicht zugelassene Händler in einem selektiven Vertriebsgebiet untersagt werden.

Wir berichten weiter.