Anpassung bestandskräftiger Planfeststellungsbeschlüsse an Vorgaben der EU-Wasserrahmenrichtlinie

In der Planungs- und Genehmigungspraxis stellt sich mitunter die Frage, welche Konsequenzen eine neue bzw. verschärfte Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) für bereits zuvor bestands-/rechtskräftig gewordene Zulassungsentscheidungen für Anlagen und Infrastrukturprojekte hat. Über eine derartige Fallkonstellation hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Urteil vom 23.06.2020 (Az. 9 A 22.19) im Zusammenhang mit einem Straßenbauvorhaben entschieden.

Sachverhalt

Die Klägerin, eine anerkannte Umweltvereinigung, begehrte die Außervollzugsetzung eines bestandskräftigen straßenrechtlichen Planfeststellungsbeschlusses. Der streitgegenständliche Planfeststellungsbeschluss wurde bereits im Jahr 2012 erlassen und durch die anerkannte Umweltvereinigung beklagt. Diese Klage wies das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2014 als unbegründet ab. Im September 2019 beantragte die anerkannte Umweltvereinigung bei der Planfeststellungsbehörde, den Planfeststellungsbeschluss aus dem Jahr 2012 zurückzunehmen oder hilfsweise zu widerrufen, hilfsweise ein ergänzendes Verfahren mit Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit zur Fehlerheilung durchzuführen und bis zum Abschluss des ergänzenden Verfahrens die Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses zu untersagen. Diese Anträge begründete die anerkannte Umweltvereinigung u.a. damit, dass vor Erlass des Planfeststellungsbeschlusses im Jahr 2012 seinerzeit keine ordnungsgemäße Prüfung des wasserrechtlichen Verschlechterungsverbots erfolgt sei, diese aber infolge des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 01.07.2015 (Rs. C‑461/13) zur Weservertiefung bei jeder Zulassung von Vorhaben mit potentiellen Auswirkungen auf Oberflächenwasserkörper zwingend erforderlich und dementsprechend nachzuholen sei. Die Planfeststellungsbehörde lehnte alle Anträge der anerkannten Umweltvereinigung ab, woraufhin diese ihr Begehren klageweise weiterverfolgte.

Im Verfahren vor dem BVerwG war unter anderem streitig, ob anerkannte Umweltvereinigungen überhaupt befugt sind, die Rücknahme bzw. den Widerruf von bestandskräftigen Planfeststellungsbeschlüssen gerichtlich geltend zu machen. Zu klären war ferner, ob die vom EuGH mit Urteil vom 01.07.2015 bejahte Pflicht der Behörden zur Prüfung des wasserrechtlichen Verschlechterungsverbots bei Vorhabenzulassungen auch für solche Planfeststellungsbeschlüsse gilt, die in zeitlicher Hinsicht im Vorfeld der das Verschlechterungsverbot „scharf schaltenden“ EuGH-Entscheidung ergangen und bestands-/rechtskräftig geworden sind. Darüber hinaus war im Klageverfahren die Frage aufgeworfen, ob ein bestands-/rechtskräftiger Planfeststellungsbeschluss, der ohne vorherige Prüfung der Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem wasserrechtlichen Verschlechterungsverbot erlassen wurde, zwecks Fehlerheilung zwingend außer Vollzug zu setzen ist oder ob die erforderliche Nachbesserung auch unter Aufrechterhaltung des Vollzugs der Entscheidung erfolgen darf.

Entscheidung

Die Klage der anerkannten Umweltvereinigung blieb ohne Erfolg.

Auf Ebene der Zulässigkeit der Klage bejahte das BVerwG zunächstdie Klagebefugnis der anerkannten Umweltvereinigung. Das BegehrenderAußervollzugsetzung des Planfeststellungsbeschlusses, um eine Fehlerheilung im ergänzenden Verfahren und dadurch einen unionsrechtskonformen Rechtszustand zu ermöglichen, sei aufgrund der der gebotenen weiten Auslegung der Klagebefugnisse anerkannter Umweltvereinigungen darauf gerichtet, einen Verwaltungsakt zur Ergreifung von Überwachungs- und Aufsichtsmaßnahmen i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 (i.V.m. Nr. 1) Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) zu erwirken. Dementsprechend seien anerkannte Umweltvereinigungen nach dem UmwRG grundsätzlich befugt, bei möglich erscheinenden Verstößen von bestandskräftigen Zulassungsentscheidungen (hier: straßenrechtlicher Planfeststellungsbeschluss sowie erteilte wasserrechtliche Erlaubnisse) gegen einschlägige unionsrechtliche Vorschriften auf Rücknahme oder Widerruf der als rechtswidrig erachteten behördlichen Zulassungsentscheidung zu klagen.

Die Klage sei jedoch unbegründet. Die anerkannte Umweltvereinigung habe keinen Anspruch auf eine Außervollzugsetzung des Planfeststellungsbeschlusses zur Ermöglichung eines Fehlerheilungsverfahrens. Zwar seien die Bewirtschaftungsziele der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie, hier insbesondere das wasserrechtliche Verschlechterungsverbot, auch auf solche Planfeststellungsbeschlüsse anzuwenden, die in zeitlicher Hinsicht vor der Entscheidung des EuGH vom 01.07.2015 zur Weservertiefung erlassen wurden. Den in diesem Urteil durch den EuGH für Vorhabenzulassungen entwickelten wasserrechtlichen Anforderungen genüge der im Jahr 2012 erlassene, inzwischen bestandskräftige Planfeststellungsbeschluss in der Sache nicht. Allerdings führe die Aufrechterhaltung des streitgegenständlichen Planfeststellungsbeschlusses zu „keinem unionsrechtlich unerträglichen Zustand“. Vielmehr seien die Instrumente der nachträglichen Anordnung von Inhalts- und Nebenbestimmungen sowie des Widerrufs von Erlaubnissen und Bewilligungen (§§ 13, 18 WHG) grundsätzlich geeignet und ausreichend, um den unionsrechtlichen Anforderungen der Wasserrahmenrichtlinie zu genügen. Die Überprüfung der erteilten wasserrechtlichen Erlaubnisse sei ein sinnvoller und im Vergleich zur bloßen Nachholung der im Planfeststellungsverfahren unterbliebenen wasserrechtlichen Prüfung auch effektiverer Weg, um den Zielen der EU-Wasserrahmenrichtlinie im Ergebnis nachträglich Geltung zu verschaffen.

Folgen für die Praxis

In prozessualer Hinsicht führt die Entscheidung des BVerwG (einmal mehr) zu einer Ausweitung des Umweltverbandsklagerechts. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 (i.V.m. Nr. 1) UmwRG verleiht anerkannten Umweltvereinigungen auch gegenüber bestandskräftigen Zulassungsentscheidungen grundsätzlich ein Klagerecht, dessen zulässige Ausübung selbstverständlich vom Vorliegen der weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen abhängt. In materieller Hinsicht geht das BVerwG einen durchaus als „salomonisch“ zu bezeichnenden Weg, indem es einerseits auch für zeitlich im Vorfeld der Weservertiefung des EuGH ergangene Zulassungsentscheidungen die Verbindlichkeit der Bewirtschaftungsziele der EU-Wasserrahmenrichtlinie (insbesondere des Verschlechterungsverbots) bejaht, andererseits jedoch durch den Verweis auf den flexiblen „Instrumentenkasten“ des nationalen Wasserrechts die Bestands- bzw. Rechtskraft von an einem Prüf- und Untersuchungsdefizit leidenden Zulassungsentscheidungen wahrt. Letzteres ist vor dem Hintergrund des praktischen Bedürfnisses von Zulassungsbehörden und Vorhabenträgern nach Rechtssicherheit zu begrüßen.

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