Arbeitszeiterfassung – Arbeitsgericht kommt dem Gesetzgeber zuvor

Die EU-Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) schreibt zum Schutz der Arbeitnehmer in der Europäischen Union Mindeststandards im Hinblick auf die Arbeitszeit vor, die durch nationale Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten umgesetzt werden müssen. In Deutschland wird dies durch das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) gewährleistet.

Mit seinem Urteil vom 14.05.2019 (Az.: C-55/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Mitgliedsstaaten gemäß Art. 3,5 und 6 der EU-Arbeitszeitrichtlinie im Licht des von Art. 31 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) begründeten Grundrechts jedes Arbeitsnehmers auf Begrenzung seiner Höchstarbeitszeit die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit erfasst werden kann. Das Gericht begründete die Entscheidung damit, dass nur so kontrolliert und durchgesetzt werden könne, dass die Arbeitszeitregeln eingehalten und der dadurch bezweckte Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer sichergestellt werde.

Die Arbeitszeitrichtlinie entfaltet in den Mitgliedsstaaten grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten, sodass die Entscheidung des EuGH zunächst einmal lediglich die nationalen Gesetzgeber verpflichtet, die im Urteil formulierten Vorgaben entsprechend umzusetzen. Wir berichteten diesbezüglich detailliert in unseren Blogbeiträgen vom 10.05.2019 und 16.05.2019.

Arbeitsgericht Emden erkennt unmittelbare Verpflichtung des Arbeitgebers

Das Arbeitsgericht Emden entschied nun, dass eine unmittelbare Verpflichtung zur Einrichtung eines derartigen Zeiterfassungssystems für Arbeitgeber besteht (ArbG Emden, Urt. v. 20.02.2020 – 2 Ca 94/19). Die Instanzrechtsprechung schafft somit Tatsachen, bevor der deutsche Gesetzgeber überhaupt auf die Entscheidung des EuGH reagierte.

Konkreter Sachverhalt

In dem der Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden zugrunde liegenden Rechtsstreit war der Kläger von September bis November 2018 als Bauhelfer zu einem Stundenlohn von EUR 13,00 für den Beklagten tätig. Nachdem das Arbeitsverhältnis geendet hatte, machte der Kläger über die bereits geleistete Vergütung hinaus weitere Lohnansprüche geltend. Im gerichtlichen Verfahren legte er eigene Stundenaufzeichnungen vor und behauptete, insgesamt mehr Arbeitsstunden als bisher abgerechnet für den Beklagten geleistet zu haben. Der Beklagte legte zum Nachweis der vom Kläger geleisteten Arbeitsstunden ein „Bautagebuch“ vor, welches Arbeitsbeginn und Arbeitsende dokumentierte und als Arbeitsleistung insgesamt lediglich die bereits bezahlten Stunden auswies.

Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden vom 20.02.2020

In der Sache hat das Arbeitsgericht Emden dem Kläger die Vergütungsansprüche unter Hinweis auf die abgestufte Darlegungs- und Beweislast zuerkannt. Insbesondere seien die Einwendungen des Beklagten – unter alleiniger Vorlage des Bautagebuchs – nicht hinreichend substantiiert, sodass der klägerische Vortrag gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gelte. Das vorgelegte Bautagebuch sei ungeeignet, zu belegen, welche Arbeiten dem Kläger zugewiesen worden sein. Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Emden habe der Beklagte insbesondere gegen die sich unmittelbar aus Art. 31 Abs. 2 der GrCh ergebenden Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit verstoßen. Die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie konkretisierten das Grundrecht aus Art. 31 Abs. 2 GrCh, sodass es keiner richtlinienkonformen Auslegung des Arbeitszeitgesetzes oder einer Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber mehr bedürfe. Die entsprechende Verpflichtung stelle sich als vertragliche Nebenpflicht i.S.v. § 241 Abs. 2 BGB dar mit der Folge, dass die Verpflichtung zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit den Arbeitgeber bereits jetzt unmittelbar treffe.

Kurzfassung: Kommt der Arbeitgeber der vom EuGH formulierten Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit nicht nach, wird der Arbeitgeber nach Ansicht des Arbeitsgerichts Emden regelmäßig nicht seiner Darlegungs- und Beweislast im Vergütungsprozess genügen können.

Auswirkungen auf die Praxis

Für Unternehmen und Arbeitgeber verstärkt sich noch einmal der aufgrund der EuGH-Entscheidung aus dem letzten Jahr ohnehin bestehende Handlungsbedarf. Arbeitgeber dürften gut beraten sein, möglichst kurzfristig ihr Zeiterfassungssystem an die Vorgaben des EuGH anzupassen. Soweit nämlich zuletzt noch auf eine gesetzliche Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber gehofft werden durfte, besteht in Anbetracht der Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden nun das Risiko, dass sich die Darlegungs- und Beweislast in Vergütungsprozessen erheblich zu Lasten des Arbeitgebers verschiebt. Für die Praxis birgt die Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden somit erhebliche wirtschaftliche Risiken.

Problematisch ist jedoch weiterhin, dass sich weder der Entscheidung des EuGH noch der des Arbeitsgericht Emden entnehmen lässt, wie ein „ausreichendes“ Zeiterfassungssystem konkret ausgestaltet sein muss.