Spätestens seit dem sogenannten Diesel-Skandal ist das Phänomen der Massenverfahren allgemein bekannt. Gemeint sind damit massenhafte Einzelklagen, denen gleichgelagerte Ansprüche zugrunde liegen und deren Erfolg von den gleichen Rechtsfragen abhängt. Um die Justiz von solchen Einzelklagen zu entlasten, hat der Bundesrat am 18.10.2024 das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (BGH) beschlossen; dieses Gesetz dürfte daher zeitnah in Kraft treten.
Der maßgebliche Gesetzesentwurf der Bundesregierung in der vom Rechtsausschuss geänderten Fassung verankert das Leitentscheidungsverfahren dabei in den zukünftigen §§ 148 Abs. 4, 552b und 565 der Zivilprozessordnung:
- Auf dieser Grundlage kann der BGH nach Eingang einer Revisionserwiderung oder nach Ablauf eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung beschließen, dass ein Revisions- zum Leitentscheidungsverfahren wird. Voraussetzung hierfür ist, dass die Revision Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. Der Beschluss, in dem das Revisions- zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt wird, ist unverzüglich zu veröffentlichen.
- Endet ein solches Revisionsverfahren daraufhin, ohne dass ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil ergeht, kann der BGH durch einen ebenfalls unverzüglich zu veröffentlichenden Beschluss eine Leitentscheidung treffen. Prozesstaktische Erwägungen in Form einer Rücknahme der Revision können eine solche Entscheidung somit nicht mehr verhindern. Eine formale Bindungswirkung kommt den Leitentscheidungen zwar nicht zu; sie sollen den Instanzgerichten aber als Orientierung dienen.
- Soweit die Entscheidung in einem Verfahren von Rechtsfragen abhängt, die den Gegenstand eines Leitentscheidungsverfahrens bilden, kann das jeweilige Gericht nach Anhörung der Parteien demgemäß anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des Leitentscheidungsverfahrens auszusetzen ist. Dies gilt nicht, wenn eine Partei der Aussetzung widerspricht und hierfür gewichtige Gründe glaubhaft macht; solche Gründe können etwa die drohende Insolvenz oder das hohe Alter einer Partei sein. Nach einem Jahr kann eine Partei zudem beantragen, dass das Verfahren fortgeführt wird, sofern keine gewichtigen Gründe dagegen sprechen.
Eine Evaluierung des Leitentscheidungsverfahrens ist nach fünf Jahren vorgesehen. Ob und in welchem Umfang dieses Verfahren tatsächlich einen positiven Effekt hat, wird auch davon abhängen, wie sich die Rechtssuchenden verhalten: Werden etwa mehr Einzelklagen eingereicht, da das Prozessrisiko infolge der Leitentscheidung (vermeintlich) geringer ist, oder prozesstaktischen Erwägungen schlicht zu einem früheren Zeitpunkt (Einlegung der Revision) angestellt? Schon jetzt ist aber klar, dass die Einführung des Leitentscheidungsverfahrens nicht verhindern wird, dass mehrere Streitigkeiten alle oder mehrere Instanzen durchlaufen, auch weil erstinstanzliche Gerichte derzeit keine Leitentscheidung des BGH herbeiführen können. Insofern wird weiterhin sorgfältig zu prüfen sein, ob erstinstanzliche Gerichte nicht – wie bereits im Rahmen der Stellungnahmen zum Referentenentwurf vorgeschlagen – zur Vorlage von bestimmten Rechtsfragen an den BGH ermächtigt werden sollten. Es bleibt also spannend.