Der Paradigmenwechsel, den Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat

Eine Blinde klagte gegen das Verbot einer Orthopädischen Gemeinschaftspraxis, mit ihrem Blindenführhund durch deren Wartebereich zu einer Physiotherapiepraxis zu gelangen. Die Klage der Blinden gegen die Orthopädische Gemeinschaftspraxis aus §§ 21, 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG blieb beim Landgericht und zweitinstanzlich beim Kammergericht Berlin erfolglos. Denn das Verbot richte sich nicht gegen die Blinde, sondern gegen die Mitnahme ihres Hundes.

Auf Verfassungsbeschwerde führte das Bundesverfassungsgericht (2 BvR 1005/18) hierzu kürzlich aus:

„Das scheinbar neutrale Verbot, Hunde in die Orthopädische Gemeinschaftspraxis mitzuführen, benachteiligt die Beschwerdeführerin wegen ihrer Sehbehinderung in besonderem Maße. Denn das Durchgangsverbot verwehrt es ihr, die Praxisräume selbständig zu durchqueren, was sehenden Personen ohne Weiteres möglich ist. Das Kammergericht stellt darauf ab, dass die Beschwerdeführerin selbst gar nicht daran gehindert werde, durch die Praxisräume zu gehen, sondern sich wegen des Verbots, ihre Führhündin mitzunehmen, nur daran gehindert sehe. Hierbei beachtet es nicht den Paradigmenwechsel, den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat. Denn es vergleicht die Beschwerdeführerin nicht mit anderen – nicht behinderten – selbständigen Personen, sondern erwartet von ihr, sich von anderen Personen helfen zu lassen und sich damit von ihnen abhängig zu machen. Dabei verkennt das Gericht, dass sich die Beschwerdeführerin ohne ihre Führhündin einer unbekannten oder wenig bekannten Person anvertrauen und sich, ohne dies zu wünschen, anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen müsste. Dies kommt einer – überholten – Bevormundung der Beschwerdeführerin gleich, weil es voraussetzt, dass diese die Kontrolle über ihre persönliche Sphäre (zeitweise) aufgibt.“

Daher verletzte die Entscheidung des Kammergerichts Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.

Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG enthält seit 1994 einen Anspruch auf Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen, durch den das tradierte sozialstaatlich-rehabilitative Fürsorgeprinzip abgelöst wurde. Ein weiterer Schritt auf diesem Weg war das Bundesteilhabegesetz, als dessen letzte Stufe zum 01.01.2023 ein neuer Behindertenbegriff eingeführt wird, der sich an der International Classification of Functioning orientiert. Die Einzelheiten soll ein weiteres Bundesgesetz regeln.