Gespaltene Auslegung im Verbraucherdarlehensrecht: Art. 247 § 6 Abs. 1 EGBGB als Hybridnorm

Hybridlösungen nehmen zu: Sie begegnen uns auf den Straßen (Hybridautos), in der Schule (Hybridunterricht) und bisweilen auch im Rechtsleben. Die Rede ist von so genannten Hybridnormen. Damit gemeint sind Vorschriften, die je nach Anwendungsfall völlig unterschiedlich ausgelegt werden. Eine solche Hybridnorm zeichnet sich nun auch im Verbraucherdarlehensrecht ab.

Pflicht zur klaren und verständlichen Formulierung von Pflichtangaben

Der Darlehensvertrag muss „klar und verständlich“ diverse Pflichtangaben enthalten. So schreibt es Art. 247 § 6 Abs. 1 Satz 1 EGBGB vor. Die Formulierung geht zurück auf die Verbraucherkreditrichtlinie aus 2008, in der es wörtlich „in klarer und prägnanter Form“ heißt. Diese Vorgabe gilt auch für die von der Bank zu erteilende Widerrufsinformation.

Kaskadenverweis in der Musterwiderrufsinformation

Kurz nach Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie hatte der deutsche Gesetzgeber, um nach den leidvollen Erfahrungen mit dem früheren Muster der Widerrufsbelehrung Rechtssicherheit zu schaffen, ein gesetzliches Muster für die Musterwiderrufsinformation eingeführt. Mit der Einführung des Musters schien die Frage, wie eine klare und verständliche Belehrung über das Widerrufsrecht auszusehen hat, geklärt. Bis zum 26.03.2020, als der EuGH am Kaskadenverweis im Muster Anstoß nahm (siehe Blogbeitrag vom 24.04.2020). Ein solch komplizierter Verweis ins Gesetz entspreche, so der EuGH, nicht den europarechtlichen Vorgaben an die nötige Klarheit.

Urteil des BGH vom 27.10.2020

Nachdem der BGH den Kaskadenverweis in der Vergangenheit stets als klar und verständlich angesehen hatte, musste er sich nun der Auffassung des EuGH fügen. Er tat dies nun in einem Urteil vom 27.10.2020 (Az. XI ZR 498/19) notgedrungen unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung und stellte fest, dass bei Darlehen, die in den Anwendungsbereich der EU-Richtlinie fallen, d. h. bei „normalen“ Ratenkrediten, der Kaskadenverweis in der Widerrufsinformation unzureichend ist; freilich nur, wenn die Bank nicht exakt das Muster übernommen hat und sich daher nicht auf die Gesetzlichkeitsfiktion berufen kann.

Großzügigere Auslegung bei Immobiliarkrediten

Der BGH betont, dass die Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung nur gilt, soweit es um Kredite geht, für die die EU-Richtlinie gilt. Schon am 31.03.2020 hatte er jedoch erklärt, dass er sich an das EuGH-Urteil nicht gebunden fühlt, soweit Immobiliardarlehensverträge betroffen ist. Denn für Immobiliardarlehen gelte die Verbraucherkreditrichtlinie nun einmal nicht. Dort ist nach Auffassung des BGH ein Kaskadenverweis also keineswegs zu beanstanden.

Konsequenz der BGH-Rechtsprechung

Nach dem aktuellen Urteil des BGH ergibt sich folgende Situation: Ein und dieselbe Formulierung – sprich: der Kaskadenverweis – wird in einer Widerrufsinformation mal als verständlich angesehen, nämlich in Fällen der Baufinanzierung, mal jedoch als unverständlich, wenn es um andere Kredite geht. Art. 247 § 6 Abs. 1 EGBGB, der klare und verständliche Pflichtangaben vorschreibt, wird damit zu einer Hybridnorm, die je nachdem, welcher Kredit betroffen ist, unterschiedlich ausgelegt wird. Dieses Ergebnis mag vor dem Hintergrund der Einheit der Rechtsordnung wenig einleuchten. Es beruht letztlich auf einer überschießenden Umsetzung europäischen Rechts durch den deutschen Gesetzgeber. Die Rechtspraxis wird sich weiter an Fälle gespaltener Auslegung gewöhnen müssen.

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