Ein beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängiges Vorabentscheidungsverfahren (C-473/19 und C-474/19) könnte weitreichende Folgen für die zukünftige Auslegung und Anwendung der artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände des § 44 Abs. 1 BNatSchG in Planfeststellungs- und Genehmigungsverfahren für technische Anlagen und Infrastrukturprojekte haben. Im nachfolgenden Beitrag stellen wir den Anlass, die Fragestellungen und die praktische Bedeutung des Ausgangs des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH überblicksartig vor.
Sachverhalt (verkürzt)
Dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH liegen zwei Rechtssachen aus Schweden zugrunde, in denen um die Zulässigkeit der Abholzung eines Walds gestritten wird. Das in Streit stehende Waldgebiet wird von mehreren Vogelarten zur Fortpflanzung genutzt. In Abhängigkeit vom konkreten Zeitpunkt ihrer Durchführung wird die geplante Abholzung vermutlich zu einer Tötung und Störung von Individuen bestimmter im Wald lebender Vogelarten sowie zu einer Zerstörung deren Eier führen. Zwecks Verhinderung dieser Folgen einer Abholzung haben zwei Vereine, die sich dem Wald- bzw. Vogelschutz verschrieben haben, Rechtsbehelfe vor einem schwedischen Gericht eingelegt. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens hat das schwedische Gericht den EuGH um Klärung verschiedener Fragen zur Auslegung des europäischen Naturschutzrechts gebeten.
(Nationale) Rechtslage und Schlussanträge der Generalanwältin Kokott
Das nationale Naturschutzrecht wird maßgeblich durch die unionsrechtlichen Vorgaben der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) und der EU-Vogelschutzrichtlinie (VRL) geprägt. Für die FFH-RL hat der EuGH bereits geklärt, dass der Verbotstatbestand der absichtlichen Beeinträchtigung geschützter Arten (Art. 12 Abs. 1 FFH-RL) nicht nur bei einer bezweckten Beeinträchtigung, sondern auch bei einer lediglich in Kauf genommenen Beeinträchtigung eines Exemplars einer geschützten Tierart erfüllt ist. In ähnlicher Weise wird im deutschen Artenschutzrecht das Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ausgelegt: Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Tatbestand des Tötungsverbots dann erfüllt, wenn durch ein zur Zulassung gestelltes Vorhaben das Risiko der Tötung eines konkreten Individuums einer geschützten Art signifikant erhöht wird. Hinter dieser Formel verbirgt sich ein individuenbezogener Ansatz, der dem Schutz einzelner Exemplare wild lebender Tiere und Pflanzen zu dienen bestimmt ist.
Anders als zu Art. 12 Abs. 1 FFH-RL hat der EuGH für die Bestimmung des Art. 5 lit. a) und b) VRL bislang nicht abschließend geklärt, wie die in der Vorschrift geregelten Verbote des „absichtlichen“ Tötens, Zerstörens oder Beschädigens zu verstehen sind. Diese Frage stellt sich, weil die VRL – anders als die FFH-RL – auf alle europäischen Vogelarten und damit auch auf sogenannte „Allerweltsarten“ anwendbar ist. Gerade „Allerweltsvogelarten“ führen in der umweltrechtlichen Planungs- und Genehmigungspraxis häufig zu artenschutzrechtlichen Problemen. Dies betrifft insbesondere die Zulassung von neuen Windparks oder Stromtrassen. Vor dem Hintergrund der durch das Schutzregime des Art. 5 VRL hervorgerufenen Einschränkungen menschlicher Betätigungen plädiert im oben angesprochenen Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen dafür, bei der Auslegung des Absichtsbegriffs der Vorschrift auf den Erhaltungszustand der jeweiligen Art abzustellen. Werde durch eine Tätigkeit die Beeinträchtigung von Vögeln nicht bezweckt, sondern lediglich in Kauf genommen, sollen die Tötungs-, Zerstörungs- und Beschädigungsverbote aus Art. 5 lit. a) und b) VRL nur dann gelten, soweit dies notwendig ist, um die betreffenden „Arten [...] auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, und dabei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung trägt.“ Im Kern schlägt Generalanwältin Kokott somit bezogen auf die in Europa heimischen Vogelarten eine populationsbezogene Interpretation des artenschutzrechtlichen Tötungs- und Verletzungsverbots aus Art. 5 lit. a) und b) VRL vor. Ein derartiges Verständnis wird auf nationaler Ebene vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung bislang abgelehnt.
Ebenfalls erwähnenswert sind die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott im Hinblick auf die Auslegung des Störungsverbots des Art. 12 Abs. 1 lit. b) FFH-RL. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des in dieser Vorschrift sprachlich weit gefassten Störungsbegriffs schlägt Kokott insoweit vor, das Störungsverbot dieser Bestimmung populationsbezogen, also im Hinblick auf zu erwartende Beeinträchtigungen des Erhaltungszustandes einer geschützten Art, zu interpretieren. Maßgeblich soll dabei nicht die Verschlechterung des Erhaltungszustands einer lokalen Population (so im nationalen Recht § 44 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 BNatSchG), sondern vielmehr der Erhaltungszustand der jeweiligen Art im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates bzw. – bei grenzüberschreitenden Sachverhalten – in der jeweiligen biogeografischen Region sein.
Ausblick
Die Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH ist für die nationalen Gerichte der Mitgliedsstaaten bindend. Folgt der EuGH den hier auszugsweise vorgestellten Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott, müsste das BVerwG seine Rechtsprechung zur Auslegung der artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände in Teilen entsprechend anpassen. Dies hätte für die Verwaltungspraxis in Deutschland deutliche Erleichterungen bei der Planung und Zulassung großer Infrastrukturprojekte zur Folge. Eine Entscheidung ist im Gerichtskalender des EuGH für den 04.03.2021 angekündigt.