Präventionsverfahren, obwohl das Kündigungsschutzgesetz noch gar nicht greift?

Um Probleme in Arbeitsverhältnissen schwerbehinderter Menschen frühzeitig zu erkennen und möglichst überwinden zu können, sieht § 167 Abs. 1 SGB IX vor, dass ein sogenanntes Präventionsverfahren durchgeführt werden muss, sobald personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Schwierigkeiten auftreten, die zur Gefährdung eines Arbeitsverhältnisses führen können. Gemeinsam mit Schwerbehindertenvertretung, Betriebsrat und Integrationsamt sollen in diesem Verfahren Möglichkeiten der Problemüberwindung erörtert werden und alle zur Verfügung stehenden Hilfen geprüft werden, um die bestehenden Schwierigkeiten möglichst zu beseitigen und das Arbeitsverhältnis erfolgreich fortsetzen zu können.

Wenn ein solches Präventionsverfahren vor Ausspruch einer Kündigung nicht durchgeführt wird, führt dies zwar nicht zwingend zur Unwirksamkeit der Kündigung, kann aber im Rahmen der Interessenabwägung zu Lasten des Arbeitgebers berücksichtigt werden und auch ein Indiz für eine Diskriminierung aufgrund einer Schwerbehinderung darstellen, das widerlegt werden muss, um nicht die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge zu haben. Bislang war aber absolut herrschende Meinung, dass dies nur nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit für die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes galt, dass also vor einer sogenannten „Probezeitkündigung“ kein Präventionsverfahren durchgeführt werden musste.

Nunmehr haben aber sowohl das Arbeitsgericht Köln (Urteil vom 20.12.2023, Az. 18 Ca 3954/23) als auch das Landesarbeitsgericht Köln (Urteil vom 12.09.2024, Az. 6 SLa 76/24) entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geurteilt, dass der Arbeitgeber auch während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG verpflichtet sein soll, ein Präventionsverfahren durchzuführen, bevor er eine “Probezeitkündigung“ ausspricht. Auch das Arbeitsgericht Freiburg (Urteil vom 4. Juni 2024, Az. 2 Ca 51/24) hat sich dem angeschlossen und eine gleichlautende Entscheidung getroffen.

Die Entscheidungen stellen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ab, der im Sinne der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie bereits während der „Probezeit“ geeignete Maßnahmen zur Unterstützung schwerbehinderter Menschen für notwendig erachtet. Der Umstand, dass die Bindung des Arbeitgebers an das Arbeitsverhältnis mit Rücksicht auf seinen durch Art. 12 GG gebotenen Grundrechtsschutz in den ersten sechs Monaten durch das Gesetz geringer ausgestaltet worden ist, biete keinen ausreichenden Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber in gleicher Weise eine Absenkung des Schutzniveaus auf Ebene seiner Nebenpflichten beabsichtigt habe. Das sei auch nicht notwendig, da bei Durchführung des Präventionsverfahrens eine Kündigung Schwerbehinderter während der Wartefrist des § 1 Abs. 1 KSchG auch weiterhin zulässig sei, ohne dass es hierfür einer sozialen Rechtfertigung bedürfe. 

Auch wenn die dargestellten Urteile des Arbeitsgerichts Freiburg sowie des Arbeitsgerichts Köln und des Landesarbeitsgerichtes Köln dem Bundesarbeitsgericht widersprechen, ist es bis zur einer Klärung durch das Bundesarbeitsgericht empfehlenswert, vorsorglich auch während der „Probezeit“ ein Präventionsverfahren durchzuführen, um sicher zu sein, dass eine Kündigung während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG rechtswirksam ist. Da das Präventionsverfahren Zeit in Anspruch nimmt, ist es gerade bei schwerbehinderten Arbeitnehmern wichtig, sich während der „Probezeit“ so schnell wie möglich einen Überblick über die Leistungen des Arbeitnehmers zu schaffen und bei möglichen Problemen den Versuch der Abhilfe durch die Durchführung eines Präventionsverfahrens zu unternehmen. Bei einer „Probezeitkündigung“ ohne vorheriges Präventionsverfahren besteht aktuell die Gefahr, dass diese für unwirksam erklärt wird, wenn es dem Arbeitgeber nicht gelingt nachzuweisen, dass die Kündigung aus Gründen ausgesprochen wurde, die nichts mit der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zu tun haben. Dies kann insbesondere dann, wenn die konkreten Auswirkungen einer Schwerbehinderung nicht bekannt sind, mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein.

Nach der Ansicht des Arbeitsgerichts Köln muss das Präventionsverfahren zumindest nicht bis zum Ende der 6-monatigen Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG abgeschlossen werden, sondern die Kündigungsmöglichkeit soll bereits dann bestehen, wenn mit der Durchführung eines Präventionsverfahren begonnen wurde.