Weihnachten - Einkehr und Freude

Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.

Galater 4, 4 - 5

Mit diesen Zeilen will ich Sie nicht missionieren, sondern einstimmen. Typischerweise rechnet man in diesen Tagen mit der klassischen Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium, und in der Tat habe ich einmal die sehr stimmungsvolle Abschiedsvorlesung eines Steuerrechtlers gehört, in der es um die Schätzung aller Welt ging, von welcher der Evangelist berichtet. Ich fühlte mich zu einem anderen, etwas nachdenklicheren Einstieg herausgefordert, als ich in der Zeitung von einer wieder einmal aufkommenden Debatte um das las, was vor einigen Jahren mit einem umstrittenen Begriff „Leitkultur“ genannt worden ist. Wenn man sich auf das Sachthema konzentriert, haben uns jedenfalls die vergangenen Monate und die Bundestagswahl in diesem Jahr gezeigt, dass eine Frage im Raum steht, der sich nicht ausweichen lässt: Was macht „unsere“ Gesellschaft aus? Darüber zu schreiben, kann hier nicht gelingen – allein was Kultur ist, kann viele Seiten füllen (siehe zum Beispiel Terry Eagleton, Kultur). Als Jurist bin ich allerdings hellhörig geworden, als ich wieder einmal in der Presse die These fand, was in diesem Land Leitkultur sei, ergebe sich aus dem Grundgesetz.

Diese These dürfte wahr und falsch zugleich sein. Das liegt aber nicht etwa daran, dass Leitkultur sozusagen Schrödingers Katze des Verfassungsrechts wäre, sondern am Mangel an Erläuterung des Vorverständnisses der Diskutanten (Ernst Roellecke: „Wenn Politiker nur in präzisen Begriffen reden dürften, könnten sie nichts mehr sagen“) und der Interpretationsbedürftigkeit, die das Grundgesetz wie alle Gesetze auszeichnet (ohne weiteres ablesbar am Umfang der dazu existierenden juristischen Kommentare). In welchem Ausmaß das Bonner Grundgesetz auf geistesgeschichtliche Wurzeln zurückgriff, ist nur der Ausgangspunkt der sich daraus ergebenden Fragen. Insbesondere die Anwendung des Grundrechtskatalogs der ersten Artikel unserer Verfassung muss immer wieder beantworten, wie viel Inhalt den Gewährleistungen vorgegeben ist.

Allerdings geht mir bei solchen Diskussionen ein Hinweis durch den Kopf, den mir mein erster Chef und Doktorvater Friedrich E. Schnapp gegeben hat: Als Jurist kann man nur Positivist sein. Das nimmt Bezug auf einen Grundsatzstreit der Rechtswissenschaft, der mit starken Argumenten von beiden Seiten geführt wird. Für das praktische Leben meint dieser rechtsphilosophisch getragene Satz freilich etwas Simples. Juristen können nur die Gesetze anwenden, die es gibt, und in Gesetzen steht nur, was man in sie hineingeschrieben hat – was umgekehrt bedeutet, dass Gesetze notwendigerweise nicht alles das ausdrücken, was man hineinschreiben könnte. Mit den Worten eines berühmten Verfassungsrechtslehrbuchs: „Die Verfassung (…) regelt nur – oft mehr punktuell und nur in Grundzügen – das, was als wichtig und der Festlegung bedürftig erscheint; alles andere wird stillschweigend vorausgesetzt (…)“ (Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 21). Und das wiederum heißt, was auch immer Leitkultur sein mag, kann sich nicht allein aus dem Grundgesetz ergeben.

Prägnant hieß es zu Beginn des Herrenchiemseer Entwurfs zum Grundgesetz: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Das Grundgesetz geht davon aus, dass ihm etwas vorausliegt, nämlich mindestens die Menschenwürde, welche es für sich selbst als unantastbar definiert, und zwar für die Ewigkeit. Es kodifiziert nicht eine „Leitkultur“, sondern die Ausschnitte daraus, die so wichtig sind, dass sie einer besonderen Hervorhebung und einer rechtlichen Absicherung gegen staatliche Eingriffe bedürfen.

Freilich wissen wir dank Martin Luther auch, dass ein Jurist ein armes Ding ist, der nichts ist als ein Jurist, und auch das wurde mein akademischer Lehrer nicht müde vorzuleben. So sehr man als Jurist Positivist sein muss, darf man sich darauf nicht beschränken. Gesetze sind nötig, um zusammenzuleben, aber sie sind nicht das, worin sich Zusammenleben erschöpft. Das sehen wir kaum irgendwo besser als in der Kunst, die man wohl als Teil der Kultur bezeichnen darf und die eigenen Gesetzen unterliegt – zum Beispiel in der klassischen musikalischen Fuge kann Formenstrenge sogar notwendige Voraussetzung für die Entfaltung von Schönheit sein, welche über die Form hinausgeht.

Daran hat mich die Stelle aus dem Galaterbrief erinnert, welche ich diesem Beitrag vorangestellt habe. Ich bin mangels Ausbildung nicht zu einer theologischen Deutung dieses Textabschnittes befähigt, aber ich nehme mir die Freiheit zu schreiben, was er mir als Jurist sagt. Der Apostel Paulus meinte wohl weniger eine Erlösung von weltlichen Gesetzen in unserem heutigen Sinne und gibt uns daher keinen Anlass zur anarchischen Revolution, sondern legt meines Erachtens eine Absage an Dogmatik nahe, um sich den Inhalten zu widmen, auf die es wirklich ankommt. Das ist vermutlich eine aus theologischer Sicht sehr freie Einordnung, aber eine, die zu den Kerngedanken des Weihnachtsfests in der Form passt, wie wir es heute feiern.

Weihnachten taucht nicht im Grundgesetz auf, gehört aber im besten Sinne zu dem, was man deutsche Kultur nennen kann: Ein Fest der Einkehr und der Freude zur dunkelsten Jahreszeit, des Treffens mit der Familie, der Zuwendung und leuchtender Kinderaugen, beruhend auf der Verkündigung einer großen Freude. Auch wenn viele Familien Traditionen – und damit eine Art Gesetz – pflegen, geht es darum eigentlich nicht: Die Form der Feier gibt den Rahmen, sich untereinander der wichtigen Dinge des Lebens zu vergewissern. Der Rahmen ist nicht das Bild.

Liebe Leserinnen und Leser,

ich hoffe, dass Sie auch ein wenig kindlicher Freude in sich wiederfinden und am Ende des Jahres im Kreis Ihrer Lieben auf Geschafftes blicken können. Gleichgültig, ob und wie Sie sich bekennen: Auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen sowie aller unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wünsche ich Ihnen ein frohes und ruhiges Weihnachtsfest!

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