Änderungen im Vertriebskartellrecht: Gestaltung von Vertriebssystemen (Teil 1)

Die Europäische Kommission hat bekanntlich am 09. Juli 2021 einen Neuentwurf sowohl der Vertikal-GVO (hier) als auch der Vertikalleitlinien (hier) veröffentlicht und die Öffentlichkeit zur Stellungnahme aufgefordert. Wir haben hierzu bereits in einem einführenden Blogbeitrag vom 16. Juli 2021 berichtet und uns in weiteren Beiträgen vom 26. Juli (hier) und 02. August (hier) mit Neuerungen zum Preisbindungsverbot sowie zum Onlinehandel und Plattformbetrieb beschäftigt. Dieser und ein weiterer, letzter Teil unserer Blogartikelreihe befassen sich mit Neuerungen bei der Gestaltung von Vertriebssystemen. Auch insoweit sind nach dem Verordnungsentwurf sowohl Klarstellungen als auch im Detail wichtige Änderungen zu vermelden.

Wie kann ein Hersteller bzw. Lieferant sein Vertriebssystem gestalten?

Einem Hersteller bzw. Lieferanten steht es frei, sein Vertriebssystem nach Zweckmäßigkeit einzurichten. Er kann also frei entscheiden, ob er die von ihm hergestellten bzw. zugekauften Produkte oder Dienstleistungen selbst vertreibt oder über Händler oder Handelsvertreter. Soweit er über unabhängige Händler tätig wird, hat er wiederum verschiedene Möglichkeiten, insbesondere die Errichtung eines Selektiv- oder aber Alleinvertriebs. Die Vertikal-GVO stellt bisher und auch nach dem Verordnungsentwurf prinzipiell jede Art von Vertriebssystemen frei; möglich sind auch Kombinationen unterschiedlicher Vertriebssysteme, allerdings nur in verschiedenen Produktmärkten oder anderen Gebieten, nicht aber in ein und demselben Gebiet. Dies ändert sich auch mit dem Neuentwurf der Vertikal-GVO nicht. Dieser führt nun erstmals neben dem bisher schon definierten Selektivvertrieb ausdrücklich Definitionen des Alleinvertriebs und auch des sogenannten freien Vertriebs ein. Letzterer ist ein Vertriebssystem, das weder Selektiv- noch Alleinvertrieb ist.

Verbesserter Schutz von Selektiv- und Alleinvertrieb

Wichtige Neuerungen im VO-Entwurf betreffen die Verbesserung des Schutzes von Selektiv- und Alleinvertriebssystemen. Gerade selektive Systeme waren bisher nur bedingt geschützt; insbesondere konnten bei gemischten Selektiv- und Alleinvertriebssystemen Graumarktverkäufe nicht wirksam unterbunden werden. Dies ändert sich nun: nach dem VO-Entwurf sollen zukünftig Alleinvertriebspartnern, aber auch freien Händlern, die nicht Mitglied des selektiven Vertriebssystems sind, aktive und passive Verkäufe an nicht zugelassene Händler in einem anderen Gebiet mit einem selektiven Vertriebssystem untersagt werden dürfen (Art. 4 lit. b ii. bzw. lit. d ii.). Zudem soll es erlaubt sein, die selektiven Vertriebspartner zu verpflichten, die ihnen auferlegten Vertriebsbindungen an ihre Kunden weiterzugeben (Art. 4 lit. c i.).

Auch der Schutz von Alleinvertriebssystemen soll nach dem VO-Entwurf verbessert werden. Klarstellend wird durch ausdrückliche Regelungen betont, dass nicht nur die Alleinvertriebshändler selbst, sondern auch Mitglieder eines parallelen selektiven oder freien Vertriebssystems verpflichtet werden dürfen, aktive Verkäufe in exklusiv zugewiesene oder dem Lieferanten vorbehaltene Gebiete zu unterlassen (Art. 4 lit. c i. bzw. lit. d i.). Dies ist, wenn auch nicht ohne weiteres ersichtlich, bereits derzeit in Art. 4 lit. b i. Vertikal-GVO geregelt. Neu ist die Möglichkeit, den Alleinvertriebspartnern, aber auch den freien Händlern Beschränkungen hinsichtlich des Niederlassungsortes aufzuerlegen (Standortklausel – Art. 4 lit. b iii. bzw. lit. d. iii.) und diese zu verpflichten, die ihnen auferlegten Vertriebsbindungen an ihre Kunden weiterzugeben (Art. 4 lit. b i./ii. bzw. lit. d. i./ii.).

Möglichkeit des sogenannten geteilten Alleinvertriebs

Neben dem Alleinvertrieb im engeren Sinne eröffnet der VO-Entwurf zukünftig auch die Möglichkeit eines sogenannten geteilten Alleinvertriebs. Der Hersteller bzw. Lieferant kann hiernach nicht nur einem einzelnen Vertriebspartner, sondern einer begrenzten Zahl von Abnehmern ein Gebiet oder eine Kundengruppe exklusiv zuweisen. Allerdings hat diese Option einen entscheidenden Pferdefuß; sie gilt nur mit der Einschränkung, „dass die Zahl der Abnehmer im Verhältnis zu dem zugewiesenen Gebiet oder der zugewiesene Kundengruppe bestimmt wird, um zum Schutz der Investitionen der Abnehmer ein bestimmtes Geschäftsvolumen zu sichern“ (Art. 1 lit. g VO-Entwurf).

Weitgehend unklar ist noch, wie diese begrenzte Zahl von Abnehmern ermittelt werden soll. Erläuterungen finden sich hierzu weder im Entwurf der VO noch der Leitlinien. Die Kommission betont nur, dass ein Alleinvertrieb nicht verwendet werden dürfe, um eine Vielzahl von Händlern in den Wettbewerb von außerhalb des exklusiv zugewiesene Gebiets abzuschotten.

Da dem Hersteller bzw. Lieferanten aber die Darlegungs- und Beweislast für die Freistellungsvoraussetzungen trifft, muss er bereits bei Aufsetzung des Vertriebssystems die zutreffende Anzahl an Vertriebspartnern bestimmt haben. Dies dürfte anspruchsvoll werden, da dem Hersteller bzw. Lieferanten regelmäßig weder die von den Vertriebspartnern getätigten Investitionen noch die sonstigen Kosten noch die Verkaufspreise bekannt sind (und aus kartellrechtlichen Gründen auch nicht bekannt sein sollten!). Er wird sich daher mit Plausibilitätsüberlegungen begnügen müssen, die aber für den Fall einer Nachprüfung durch die Kommission oder das Bundeskartellamt hinreichend nachvollziehbar und ausreichend dokumentiert sein müssen. Denn hinsichtlich des Beweismaßes kann nichts Anderes gelten als im Rahmen einer Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV. Die damit einhergehenden rechtlichen Risiken für den Hersteller bzw. Lieferanten sind offensichtlich.

Ist die (begrenzte) Zahl der Exklusivhändler zutreffend bestimmt, dürfen diesen die gleichen Beschränkungen wie Alleinvertriebspartnern im engeren Sinne auferlegt werden. Eine Kernbeschränkung ist es allerdings, den geteilten Alleinvertriebspartnern die Belieferung untereinander (also Querlieferungen innerhalb des Gebiets) zu untersagen.

Fazit

Insgesamt ergeben sich nach derzeitigem Stand des VO-Entwurfes gerade im Hinblick auf gemischte Vertriebssysteme größere Gestaltungsspielräume für den Hersteller bzw. Lieferanten als bisher. Gerade die Einrichtung gemischter Systeme dürfte dann wirtschaftlich interessanter sein, da ein weitgehend vollständiger Schutz vor der Aushöhlung durch systemfremde Verkäufe jedenfalls rechtlich gewährleistet werden kann. Rechtlich anspruchsvoll dürfte allerdings - jedenfalls ohne weitere Guidance durch die Kommission - die Einrichtung eines geteilten Alleinvertriebssystems werden.