Stolperfalle adé? - Wirksamkeit von Kündigungen trotz formeller Fehler im Massenentlassungsverfahren?

Das neue Jahr könnte direkt mit einem arbeitsrechtlichen Aufschrei beginnen. Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt, seine Rechtsprechung im Hinblick auf die aus einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige resultierende Unwirksamkeit einer Kündigung zu ändern.

Bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verstoßen Kündigungen, bei denen zum Zeitpunkt ihres Ausspruchs keine oder eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nach § 17 Absatz 1, Absatz 3 KSchG vorliegt, gegen § 134 BGB und sind damit unwirksam (vgl. z. B. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. November 2012 – 2 AZR 371/11).

(Formelle) Wirksamkeitsvoraussetzungen des Massenentlassungsverfahrens

Das Kündigungsschutzgesetz sieht im Grundsatz für Betriebe mit in der Regel mehr als zwanzig Beschäftigten für den Fall, dass der Arbeitgeber beabsichtigt, innerhalb von 30 Kalendertagen eine Anzahl von Arbeitnehmern zu entlassen, die die in § 17 KSchG normierten Schwellenwerte überschreitet, die Durchführung eines Massenentlassungsverfahrens nach den Vorschriften der §§ 17 ff. KSchG vor.

Im Rahmen des durchzuführenden Massenentlassungsverfahrens treffen den Arbeitgeber zahlreiche Pflichten:

Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat im Falle seines Bestehens im Hinblick auf die geplante Massenentlassung insbesondere über

  1. die Gründe für die geplanten Entlassungen,
  2. die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer,
  3. die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
  4. den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
  5. die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer und
  6. die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien

rechtzeitig schriftlich zu informieren (§ 17 Absatz 2 Satz 1 KSchG). Darüber hinaus sieht § 17 Absatz 2 Satz 2 KSchG eine Konsultationspflicht vor, wonach Arbeitgeber und Betriebsrat insbesondere die Möglichkeit haben, zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern.

Gleichzeitig mit der Mitteilung der Informationen an den Betriebsrat hat der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit eine entsprechende Abschrift zuzuleiten. Der Abschrift ist im Grundsatz die Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen beizufügen (§ 17 Absatz 3 KSchG).

Erst wenn das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat abgeschlossen ist, kann die eigentliche Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit nach Maßgabe von § 17 Absatz 1 KSchG erstattet werden.

Beabsichtigte Rechtsprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichts

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt nun, seine Rechtsprechung im Hinblick auf die aus einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige resultierende Unwirksamkeit einer Kündigung zu ändern. Demnach soll eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung nicht mehr allein deshalb gemäß § 134 BGB unwirksam sein, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Absatz 1, Absatz 3 KSchG vorliegt. Hierzu hat der Sechste Senat beim Zweiten Senat angefragt, ob dieser weiterhin an seiner bisherigen Auffassung festhalten wolle, da es sich bei der beabsichtigten Rechtsprechungsänderung um eine entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts seit dessen Urteil vom 22. November 2012 (Az. 2 AZR 371/11) handelt. Im gleichen Zug hat er die die Rechtsfrage betreffenden eigenen Verfahren bis zu einer endgültigen Klärung ausgesetzt (Az. 6 AZR 157/22; 6 AZR 155/21; 6 AZR 121/22). Sollte der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts von seiner Rechtsprechung nicht abweichen, müsste der Große Senat entscheiden.

Hintergrund der beabsichtigten Rechtsprechungsänderung sind bestehende Zweifel des Sechsten Senats, inwieweit die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mit der Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG vereinbar sowie im Allgemeinen verhältnismäßig ist. Bestärkt werden diese Zweifel auch durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Juli 2023 (Az. C-134/22), die im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, das vom Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts eingeleitet worden ist, ergangen ist. In diesem hatte der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts bei dem Europäischen Gerichtshof angefragt, welchen Zweck die in Artikel 2 Absatz 3 Unterabsatz 2 der Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG normierte Übermittlungspflicht, die durch § 17 Absatz 3 Satz 1 KSchG in deutsches Recht umgesetzt worden ist, verfolgt. Denn nur wenn dieser Verpflichtung jedenfalls auch eine den Arbeitnehmerschutz bezweckende Wirkung beikäme, ließe sich eine Einordnung als Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB und damit eine Unwirksamkeit der Kündigung im Falle ihrer Verletzung begründen. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass diese Übermittlungspflicht ausschließlich Informations- und Vorbereitungszwecken der Behörde diene, jedoch keinen individuellen Arbeitnehmerschutz bezwecke.

Auswirkungen auf die Praxis

Die beabsichtigte Rechtsprechungsänderung des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts ist zu begrüßen und vor dem Hintergrund der vorgenannten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auch folgerichtig. Soweit eine im Massenentlassungsverfahren normierte Verpflichtung nicht jedenfalls auch dem individuellen Arbeitnehmerschutz dient, ist es nicht überzeugend, sie als Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB einzuordnen und die Wirksamkeit einer Kündigung bereits hieran scheitern zu lassen.

Sollte es zu der beabsichtigten Rechtsprechungsänderung kommen, dürften Arbeitgeber erst einmal aufatmen können. Denn das Massenentlassungsverfahren bietet zahlreiche Stolperfallen, die bis jetzt schnell zur Unwirksamkeit von Kündigungen, die im Rahmen von Massenentlassungen ausgesprochen worden sind, geführt haben. Eine entsprechende Rechtsprechungsänderung würde zu einer nicht zu unterschätzenden Minimierung des Unwirksamkeitsrisikos von diesen Kündigungen beitragen.

Bis Klarheit darüber herrscht, ob das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung im Hinblick auf die aus einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige resultierende Unwirksamkeit einer Kündigung tatsächlich ändert, ist Arbeitgebern tunlichst zu empfehlen, die sie im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens treffenden Verpflichtungen weiterhin strikt einzuhalten und die weitere Entwicklung mit Spannung zu verfolgen. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die Reichweite der von dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigten Rechtsprechungsänderung. Insoweit beschränkt sich die Pressemitteilung vom 14. Dezember 2023 ausschließlich auf Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren gemäß § 17 Absatz 1, Absatz 3 KSchG, die im Falle einer Rechtsprechungsänderung nicht mehr zu der Unwirksamkeit von Kündigungen führen sollen.

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