In den letzten Jahren erlebte die Arbeitswelt einen spürbaren Wandel. Agiles Arbeiten, Home-Office und Crowd-Working sind in aller Munde und haben zum Teil schon Einzug in den Arbeitsalltag vieler Menschen gefunden. Durch diese neuen Strukturen verschwimmen Zeiten von Arbeit und Freizeit mehr und mehr. Zum Schutz der Arbeitnehmer schreibt die EU-Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) in der Europäischen Union Mindeststandards vor, die durch nationale Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten umgesetzt werden müssen. In Deutschland wird dies durch das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) gewährleistet, welches beispielsweise Begrenzungen der Arbeitszeit sowie die Einhaltung von Ruhezeiten vorsieht. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnte nun vor dem Hintergrund des Arbeitnehmerschutzes einen erheblichen Anpassungsbedarf im Bereich der Arbeitszeiterfassung gerade für kleine und mittelständische Arbeitgeber bedeuten.
Rechtsstreit vor dem EuGH
Der EuGH hat im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens darüber zu entscheiden, ob die Mitgliedsstaaten zur Gewährleistung des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer eine Verpflichtung für Unternehmen vorsehen müssen, Instrumente zur Messung der von den Arbeitnehmern geleisteten täglichen effektiven Arbeitszeit einzuführen (EuGH, Az.: C-55/18). Dem Verfahren zugrunde liegt eine Verbandsklage der spanischen Gewerkschaft Federacion de Comisiones Obreras (CCOO) gegen die Deutsche Bank SAE (Spanien). Die CCOO vertritt die Auffassung, dass sich eine Verpflichtung zur Einführung einer entsprechenden Zeiterfassung aus der Charta der Grundrechte der EU und aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie ergebe. Das spanische Recht sieht eine generelle Zeiterfassungspflicht jedoch nicht vor. Vielmehr hat der spanische Gesetzgeber eine solche Pflicht lediglich für bestimmte Bereiche (z.B. Teilzeitbeschäftigte) vorgeschrieben.
Schlussanträge des Generalanwalts
Am 31.01.2019 ist der zuständige Generalanwalt Giovanni Pitruzzella, der den EuGH bei seiner Entscheidungsfindung unterstützt, mit seinen Schlussanträgen der Auffassung der CCOO gefolgt. Er geht ebenfalls davon aus, dass sich aus der EU-Grundrechtecharta und der EU-Arbeitszeitrichtlinie die Verpflichtung ergebe, ein Instrument zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für "gewöhnliche Arbeitnehmer" (Vollzeitkräfte) einzuführen. Die Mitgliedsstaaten könnten zwar die Mittel und Wege frei wählen, mit denen sie die EU-Arbeitszeitrichtlinie umsetzten, jedoch seien Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedsstaaten, die eine entsprechende Verpflichtung nicht vorsähen oder im Wege der Auslegung zuließen, unionsrechtswidrig und nicht anzuwenden.
Verschiedene Arbeitszeitbegriffe
Allerdings betrifft die anstehende Entscheidung des EuGHs zur Arbeitszeiterfassung lediglich die arbeitsschutzrechtliche und nicht die vergütungspflichtige Arbeitszeit. Insofern ist grundsätzlich zu unterscheiden:
- Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzrechtes ist die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Kurz: Jene Zeit, die der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient
- Die vergütungspflichtige Arbeitszeit bestimmt sich primär nach § 611 Abs. 1 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag. Erfasst ist insofern jede im Austauschverhältnis vom Arbeitgeber verlangte Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt (BAG vom 19.09.2012 - 5 AZR 678/11).
Relevant wird diese Unterscheidung beispielsweise bei Dienstreisen. Sitzt der Mitarbeiter im Zug und erbringt währenddessen keine Arbeitsleistung, handelt es sich nicht um Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne. Jedoch kann diese - vom Arbeitgeber veranlasste - Tätigkeit sehr wohl zu vergüten sein (vergütungspflichtige Arbeitszeit).
Rechtslage in Deutschland
Ähnlich wie in Spanien muss in Deutschland gemäß § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG gegenwärtig lediglich die Arbeitszeit erfasst und dokumentiert werden, die an Werktagen den Zeitraum von acht Stunden überschreitet oder auf Sonn- und Feiertage fällt. Eine generelle Verpflichtung zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit besteht nicht.
Anpassungsbedarf für Gesetzgeber und Unternehmen?
Die Verkündung der Entscheidung des EuGHs ist für den 14.05.2019 geplant. Regelmäßig weicht der EuGH jedoch nicht von den Schlussanträgen des Generalanwalts ab. Vor diesem Hintergrund kann somit zumindest gemutmaßt werden, dass das deutsche Arbeitszeitgesetz den europarechtlichen Anforderungen der EU-Richtlinie nicht gerecht wird. Folgt der EuGH tatsächlich dem Generalanwalt, müsste dementsprechend durch den deutschen Gesetzgeber nachgebessert werden.
In der Praxis verfügen größere Unternehmen in Deutschland bereits regelmäßig über umfassende Arbeitszeiterfassungssysteme, da diese beispielsweise an die Lohnabrechnung gekoppelt sind oder Betriebsvereinbarungen entsprechende Verpflichtungen vorsehen. Allerdings können Anpassungen der vorhandenen Systeme erforderlich sein, wenn - wie in der Praxis wohl üblich - nicht die arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit erfasst wird, sondern lediglich die vergütungspflichtige Zeit.
Gerade bei Mittelständlern und kleineren Unternehmen dürfte eine entsprechende Entscheidung durch den EuGH dazu führen, dass neue Arbeitszeiterfassungssysteme eingeführt werden müssen. Wie die Umsetzung im Detail auszusehen hat, lässt der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen offen. Nach der EU-Richtlinie sei jedenfalls auch eine einfache Aufzeichnung in Papierform, in elektronischer Form oder in anderer Weise möglich. Eine Lösung können somit beispielsweise auch Stundenzettel darstellen. Allerdings bleibt abzuwarten, wie der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben nationalgesetzlich umsetzen wird. In jedem Fall dürfte Unternehmen zu raten sein, im Falle einer Entscheidung des EuGHs unverzüglich eine Zeiterfassung zu veranlassen. Werden entsprechende Maßnahmen getroffen, ist darüber hinaus zwingend an die Beteiligung der Arbeitnehmervertretungen zu denken (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG).