Das BVerfG verhandelte am 24. und 25. Januar über fünf Verfassungsbeschwerden von Berufsgruppen- und Branchengewerkschaften, einem Spitzenverband sowie eines Gewerkschaftsmitglieds gegen Vorschriften des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 03. Juli 2015.
RECHTLICHER HINTERGRUND
Der vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte – nach vorheriger Ankündigung – mit seinen Beschlüssen vom 23. Juni 2010 seine bis dahin anders lautende ständige Rechtsprechung gekippt und entschieden, dass in einem Betrieb selbst dann, wenn die dort tätigen Mitarbeiter unterschiedlichen Gewerkschaften angehören, auch mehrere Tarifverträge gleichzeitig und nebeneinander zur Anwendung kommen können. Als Folge dieser Aufgabe des sog. Grundsatzes der Tarifeinheit befürchteten Kritiker Konkurrenzkämpfe zwischen den unterschiedlichen beteiligten Gewerkschaften, die schlimmstenfalls durch dauernde und vor allem zeitlich nicht untereinander abgestimmte Arbeitskämpfe den Betriebsfrieden weit stärker als bisher stören könnten. Denn bislang bewegte sich die Anzahl der streikbedingt ausfallenden Arbeitstage in Deutschland im Vergleich zu anderen Industrienationen allenfalls im Mittelfeld und lag weit unterhalb den Werten vor allem einiger europäischer Nachbarländer. Vor allem dem Risiko zunehmender Arbeitskämpfe wollte die Bundesregierung mit dem Gesetz zur Tarifeinheit entgegentreten. Dabei kann es als durchaus typisch für den schon seit vielen Jahren äußerst dürftigen Gestaltungswillen des Gesetzgebers bei heiklen sozialpolitischen Themen gelten, dass im Tarifeinheitsgesetz gar keine unmittelbaren Regelungen zum Thema „Arbeitskampf“ enthalten sind, sondern die eigentliche Lösung der insoweit wenig ausführlichen Gesetzesbegründung der Arbeitsgerichtsbarkeit zugeschoben wird.
GESELLSCHAFTSPOLITISCHER HINTERGRUND
Diese rechtlichen Überlegungen und Entwicklungen haben ihre eigentliche Ursache in der Entstehung oder jedenfalls deutlichen Erstarkung von früher nicht vorhandenen oder wenig durchsetzungsmächtigen kleineren Gewerkschaften, in welchen bestimmte Berufsgruppen (Piloten, Ärzte, Lokführer etc.) zusammengeschlossen sind. Nicht selten nehmen deren Mitglieder zentrale Funktionen in den zunehmend komplexer organisierten Unternehmen und Konzernen ein, haben bei einer gemeinsamen Arbeitsniederlegung im Streik erhebliches Schädigungspotential und sind deshalb in der Lage, für ihre jeweilige Berufsgruppe besonders gute Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass diese Spartengewerkschaften regelmäßig nicht unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der das deutsche Sozialmodell in Jahrzehnten eher durch breite und untereinander solidarische Organisation möglichst vieler unterschiedlicher Arbeitnehmergruppen entscheidend mitgeprägt hat, organisiert sind.
Damit war nicht nur die arbeitsrechtliche, sondern auch die gesellschaftspolitische Gefechtslage bei Erlass des Tarifeinheitsgesetzes äußerst unübersichtlich.
ZENTRALE INHALTE DES TARIFEINHEITSGESETZES
Im Wesentlichen wurde durch das Gesetz zur Tarifeinheit eine neue Kollisionsregel in das Tarifvertragsgesetz sowie ein neues arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren mit dem Ziel der Feststellung, welche von mehreren in einem Betrieb vertretenen Gewerkschaften die Mehrheit der Arbeitnehmer vertritt, in das Arbeitsgerichtsgesetz eingefügt.
Nach § 4a Abs. 2 S. 2 Tarifvertragsgesetz soll im Falle des Zusammentreffens mehrerer nicht inhaltsgleicher Tarifverträge derjenige im Unternehmen gelten, der durch die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern vor Ort ausgehandelt wurde. Die Gewerkschaft, deren Tarifvertrag durch diese Regel verdrängt wird, kann sich allerdings dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft im Nachhinein anschließen.
Mit den §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 Arbeitsgerichtsgesetz wurde in das Arbeitsgerichtsgesetz ein neues Verfahren eingefügt, mit welchem in verbindlicher Weise geklärt werden soll, welcher Tarifvertrag nach der Kollisionsregel in Verbindung mit dem Mehrheitsprinzip des § 4a Abs. 2 S. 2 Tarifvertragsgesetz im Unternehmen Anwendung findet.
Im arbeitsrechtlichen Schrifttum wurde das Gesetz bereits während seines parlamentarischen Entstehungsprozesses und erst recht bei seinem Inkrafttreten überwiegend kritisch gesehen. Haupteinwände waren eine überwiegend befürchtete Verfassungswidrigkeit im Hinblick auf eine unzulässige Beeinträchtigung der in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes garantierten gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit sowie das praktisch kaum handhabbare neue Beschlussverfahren zur Feststellung der gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb.
EILANTRÄGE SCHEITERTEN 2015
Drei Gewerkschaften hatten nach in Kraft treten Eilanträge beim Bundesverfassungsgericht eingereicht (§ 32 Abs. 1 BVerfGG), um die Umsetzung des Tarifeinheitsgesetzes zu verhindern. Mit Beschluss vom 06. Oktober 2015 lehnte das oberste deutsche Gericht diese ab. Für Eilanträge gelten besonders hohe Hürden, da sie einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellen. Beim Tarifeinheitsgesetz sei – so die Verfassungsrichter – nicht ersichtlich, welche gravierenden, irreversiblen oder nur schwer revidierbaren Nachteile durch eine Umsetzung zu befürchten gewesen wären. Allerdings betonten sie auch, dass der Ausgang im Hauptsacheverfahren, also im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde, offen sei. Diese seien nämlich nicht Teil der Beurteilung gewesen, denn es werde im Rahmen des Eilantrags nur eine Folgenabwägung bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorgenommen.
Damit waren und sind die Bedenken im arbeitsrechtlichen Schrifttum gegen das Gesetz trotz Zurückweisung der Eilanträge nicht ausgeräumt. Das rechtliche Schicksal des Gesetzes galt und gilt auch weiterhin als völlig offen.
DIE VERFASSUNGSBESCHWERDEN
Die Beschwerdeführer wenden sich im Rahmen ihrer Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) gegen die oben dargestellten Ausprägungen des Tarifeinheitsgesetzes. Sie rügen eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG und teilweise auch von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie von Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 GG. Durch das Gesetz werde in mehrfacher Hinsicht in die Koalitionsfreiheit eingegriffen, indem das Recht beeinträchtigt werde, effektiv wirkende Tarifverträge abzuschließen. Eine Rechtfertigung für diesen Eingriff sei nicht ersichtlich, insbesondere würde dieser nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Hinter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, einer Ausprägung von Art. 20 Abs. 3 GG, verbirgt sich der Gedanke, dass bei grundrechtssensiblen Eingriffen ein gewisses Maß eingehalten werden muss.
Zudem sei der Justizgewährungsanspruch verletzt, da der Gesetzgeber kein effektives Verfahren zur Bestimmung des im Betrieb anwendbaren Tarifvertrags zur Verfügung gestellt habe und im Individualprozess Rechtsschutzlücken bestünden. Der effektive Rechtsschutz ist verfassungsrechtlich in Art. 19 Abs. 4 GG festgelegt und soll bei einer Rechtsverletzung den Zugang zu staatlichen Gerichten ermöglichen.
MÜNDLICHE VERHANDLUNG UND AUSBLICK
Nach den beiden Verhandlungstagen wird das Bundesverfassungsgericht sich einige Monate Zeit nehmen, um zu entscheiden. Eine große Rolle wird bei den Erwägungen der Richter spielen, ob das Gesetz die Konflikte zwischen mehreren in einem Betrieb vertretenen Gewerkschaften verstärken wird. Die Befürworter, allen voran Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles und der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann, verwiesen demgegenüber in der Verhandlung in Karlsruhe auf einen von ihnen erhofften gegenteiligen Effekt, welcher die unterschiedlichen in einem Betrieb vertretenen Gewerkschaften zur Bildung von Verhandlungsgemeinschaften und Abschluss gemeinsamer mehrgliedriger Tarifverträge (ein Modell, welches jahrelang bei einigen Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes funktioniert hat) bewegen soll.
Insgesamt lassen die kritischen Fragen der Richter aber Zweifel daran aufkommen, ob das Tarifeinheitsgesetz in der bisherigen Fassung als verfassungsgemäß eingestuft werden wird.
Die Entscheidung wird mit Spannung erwartet. Seit Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes will dieses bislang jedenfalls niemand so recht anwenden. Beispielsweise die Deutsche Bahn und die Gewerkschaft der Lokomotivführer haben sich entsprechend verständigt. Es liege, so der Anwalt der ebenfalls am Verfahren beteiligten Gewerkschaft Cockpit, Gerhart Baum, ein „Schwebezustand“ vor. Auch die obersten Bundesrichter selbst hatten davor gewarnt, das Gesetz vor ihrer Entscheidung umzusetzen.
An diesem Zustand werden auch die beiden vergangenen Verhandlungstage wohl nichts ändern. Unabhängig davon, wie die Entscheidung in Karlsruhe schließlich ausgehen wird: Den Trend zur Spezialisierung und Herausbildung von durchsetzungsmächtigen Funktionseliten werden weder der Gesetzgeber noch die Rechtsprechung aufhalten.
Zwischen gewerkschaftlicher Zwangssolidarität und Durchsetzungsmacht von Funktionseliten: BVERFG verhandelt zur Verhältnismäßigkeit des Tarifeinheitsgesetz
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